Montag, 28. Januar 2008

Ach, Afrika, Teil drei

Liebe Freunde,

heute beginnen meine letzten vier Wochen in Eikwe. Es ist sicher noch nicht die Zeit, um ein Fazit zu ziehen, es scheint aber so, dass es heute hier etwas ruhiger zugehen wird - was sich in Eikwe allerdings schnell ändern kann. So nutze ich die Zeit, um mich wieder bei Euch zu melden. Die Schwestern beten schon den ganzen Morgen, und die Action Church lärmt im Hintergrund. Es scheint eine Art von Sekte zu sein, von denen es viele in Ghana gibt. Diese Kirche zeichnet sich dadurch aus, dass ihre Gottesdienste enorm laut sind, es wird viel getrommelt, und dazwischen wird Jesus! geschrieen oder ein Halleluja!. Also Action im Sinne des Wortes. Das dauert immer so etwa drei Stunden, und die Menschen kommen ziemlich verschwitzt, aber strahlend, aus der Bretterbude heraus, die sie sich als Versammlungsraum gezimmert haben. Diese Form von Gottesdienst scheint den Menschen in Afrika am liebsten zu sein.
Der Sonntag ist den Menschen hier heilig und etwas Besonderes. Das erinnert mich an meine Kindheit. Auch damals wurde für meinen Vater der Sonntagsanzug herausgelegt und wir Kinder bekamen eine ähnliche Verkleidung verpasst. Fürchterlich, da man sich nicht schmutzig machen durfte und der Tag irgendwie kein Ende zu nehmen schien. Immerhin blieb uns später der Kirchgang erspart. Hier ist der Besuch der Kirche aber die einzige Abwechslung vom täglichen Trott und dem immer währenden Kampf ums Überleben. Wenn man noch nie in solchen Verhältnissen gelebt hat, kann man sich das kaum vorstellen. Da die wenigsten von Euch solche Erfahrungen kennen, möchte ich einfach mal einige Schicksale beschreiben. Ich blicke jetzt auf zehn Jahre Arbeit in Drittweltländern zurück und kann sagen, dass es dabei egal ist, ob man in Südamerika, Asien oder Afrika tätig ist. Dort, wo es Armut gibt, leiden die Menschen und werden zwangsläufig krank und sterben früh. Diese Situation ist überall ähnlich.

Ich will jetzt nicht über die einzelnen Kulturen sprechen, da gibt es sicher Unterschiede, und der Wille zur Veränderung ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Eines ist jedoch offensichtlich: die Armut ist nicht selbst verursacht und die Menschen werden kaum eine Chance haben, sich aus dem Dreck zu ziehen, wenn sich die Rahmenbedingungen der Weltwirtschaft und der Globalisierung in Zukunft nicht wesentlich ändern. Die Menschen in den Drittweltländern sind seit jeher ausgebeutet worden, und diese Ausbeutung hält unverändert an. Wir Weißen versklaven sie nicht mehr im ursprünglichen Sinne, wir geben ihnen aber einfach nicht, was ihnen zusteht, und so betrügen wir sie weiterhin. Die Macht des Kapitals, das Geld der weltweit operierenden Firmen, hat ein Monopol aufgebaut, das billig Arbeitskräfte einkauft, die Bodenschätze der Länder plündert und zerstörte Landschaften zurück lässt. Die Menschen, die bleiben müssen, werden allein gelassen und sterben an den Folgen des Raubbaus. Sie haben sowieso nicht viel von der Ausbeutung der Bodenschätze gehabt. Die gut dotierten Posten gehören den Weißen, die einfache Arbeit bleibt über. Arbeitsschutz ist dabei ein Fremdwort. Das tägliche Leben wird teurer, die Töchter prostituieren sich, wollen raus aus dem Dreck, aber der „Freund“ wird sie nicht mitnehmen... Er hinterlässt, wenn die Mädchen Glück haben, nur ein Kind, wahr-
scheinlicher ein Kind und HIV. Das Kapital zieht weiter auf seinen Beutezügen, ohne sich Gedanken über die Folgen zu machen. Dem Ganzen wird ein Mäntelchen der Legalität umgehängt, indem man Verträge mit den jeweiligen korrupten einheimischen Politikern abschließt. Das Geld wandert wiederum auf europäische Konten der Potentaten und wird in Villen in London, in der Schweiz oder sonst wo investiert. Die großen Firmen haben sogar Privatarmeen in Afrika, um zum Beispiel ihre Diamanten oder Goldminen zu schützen. Es wird auch vor keinem Tyrannenmord zurück-
geschreckt, wenn es dem Profit nutzt. Diese Form des Postkolonialismus findet man vor allem in Afrika. Peter Scholl-Latour hat vor einiger Zeit ein sehr interessantes Buch darüber geschrieben: „Afrikanische Totenklage. Der Ausverkauf des Schwarzen Kontinents“. Er konnte sehr einfach nachweisen, dass all die fürchterlichen Kriege in Afrika nach der Selbstständigkeit der Staaten letztlich Stellvertreterkriege der großen Firmen und ideologische Grabenkämpfe der Weltmächte USA/kommunistische Staaten waren. Vor allem die Amerikaner haben da immer die Finger im Spiel, um ihre Interessen zu wahren. Für ein gutes Geschäft wird gemordet, gefoltert und weiß Gott welche Perversitäten angeordnet. Wie sollen sich einfache und dazu noch ungebildete Menschen gegen diese Macht wehren? Es gibt da eigentlich nur zwei Wege. In Demut alles hinnehmen, was sich in Afrika zur Zeit noch abspielt oder radikal werden und alles zerstören. Die Frage ist, wer mehr zu verlieren hat, die Armen oder die Reichen. Für mich ist die Antwort ganz klar. Wenn wir Europäer kein Auto mehr fahren können, weil es kein Öl mehr gibt oder wenn ein Flugzeug in ein Hochhaus knallt, dann kracht bei uns die Börse in den Keller, Panik bricht aus, wir fühlen uns verloren. Wenn ein Wirbelsturm über die Grashütten in Afrika hinweg rauscht, sind diese zerstört, stehen aber wieder in drei Tagen. Die Menschen haben ihr Hab und Gut verloren, leiden in dem Sinne aber kaum, da es eh nicht viel zu verlieren gab. Sie haben aber ihren Zorn und Stolz, der für uns kaum zu verstehen ist. Ich finde die Menschen in Afrika nicht berechenbar, soweit ich das nach sechs Monaten sagen kann, was aber Langzeitexperten bestätigen. Sie können in einem Wahn töten und morden, der für uns nicht vorstellbar ist. Beispiele sind die Exzesse in Liberia und Sierra Leone.

Afrika scheint noch weit entfernt von Europa zu sein. Der Exodus findet aber schon statt. Ich erinnere da an die vielen Afrikaner, die auf unseren heiß geliebten Kanaren jeden Tag anlanden. Noch können wir unseren Urlaub nur einige Kilometer entfernt genießen, das kann sich aber schnell ändern. So hohe Zäune kann es nicht geben, dass Menschen sie nicht über-
winden könnten, wenn ihnen die Not keine andere Wahl lässt. Dann werden wir die afrikanischen Probleme am eigenen Leib spüren und erleben. Diese Emigranten werden sich nicht in unsere Lebensgemeinschaft integrieren lassen. Dazu ist die Lebensweise zu verschieden, der Bildungsstandard zu unterschiedlich. Die Kriminalitätsrate wird ansteigen, denn, was man mir nicht freiwillig gibt, das nehme ich mir, lautet die Devise. Wir Westler sind es nicht gewohnt uns entsprechend wehren zu müssen. Wahrscheinlich werden wir uns dann später in bewachten Wohngegenden wiederfinden, in denen wir unseren Rassismus pflegen können, da alles Böse von Außen kommt.

Jetzt bin ich aber etwas abgeglitten. Nun wieder zurück zu meinem derzeitigen kleinen Mikrokosmos. Viele der Menschen in Eikwe sind Fischer und leben seit Jahrhunderten von ihrer Arbeit. Seit etwa 5 – 8 Jahren besteht ein Abkommen zwischen der EU und den Regierungen Westafrikas. Der Fischfang innerhalb der staatlichen Fischereizonen wurde den großen Flotten erlaubt. Das Vertrags-
volumen beträgt etwa 40 Millionen Euro jährlich. Die großen Flotten haben unserer nordeuropäisches Meer leergefischt, jetzt geht es vor Afrika weiter. Der Wert der gefangenen Fische beträgt auf dem europäischen Markt etwa 200 Millionen Euro. Die Fischer von Eikwe fangen seitdem nur noch wenig. Ich sehe auf dem Markt selten einen großen Fisch und wenn, dann landet der unter Umständen noch auf unserem Tisch. Die kleinen Fische kann man nur räuchern, was den Nährwert beträchtlich schmälert. So haben die Fischer große Verdienstausfälle, das gute Eiweiß fehlt in der Nahrung, die Unterernährung nimmt zu. Einen Ausgleich des Verdienstausfalls gibt es nicht. Wer ist der Verlierer? Einen der Fischer habe ich gestern als Patienten gesehen. Die Tuberkulose war schnell diagnostiziert bei ihm. Er kann jetzt erst einmal für längere Zeit nicht arbeiten. Bei uns bekommt er die TB-Medizin kostenlos, die Kosten des Krankenhauses und die Begleitmedikation muss er aber selbst zahlen. Da sind seine wenigen Ersparnisse schnell aufgebraucht. Er hat noch Glück, dass er bei uns gelandet ist. Ein kleineres Krankenhaus, weiter westlich von uns, verkauft die Medikamente an die TB-Kranken, obwohl es Spenden aus Dänemark sind und auf der Packung steht, dass sie nicht verkauft werden dürfen! Die Patienten wissen das nicht, der betrügerische Arzt will das zusätzliche Einkommen, die Behörde will den Arzt nicht vergraulen, da sie froh ist, dass er überhaupt dort arbeitet. Es interessiert sie auch nicht wirklich. Eigentlich müsste der Staat viel mehr Geld für die Patienten ausgeben, da er Geld aus dem Topf der WHO bzw. des Global Fund bekommt. Schaut man auf die offizielle Seite des Gesundheitsministeriums von Ghana, dann wird die sogenannte DOTS TB Behandlung angeblich nach den Richtlinien der WHO durchgeführt. Das stimmt jedoch nicht, zumindest nicht in unserer Region. Nach den DOTS Richtlinien muss ein unabhängiger, allgemein respektierter Mensch die tägliche Medikamenteneinnahme überwachen. Das verlangt, eine entsprechende Infrastruktur in den Dörfern zu schaffen. Diese Mühe machte man sich von offizieller Seite nicht, und vom Personal unsres Hauses ist diese Aufgabe nicht auch noch zu schaffen. Es gibt im derzeitigen System lediglich Familienmitglieder, die die Therapie unter einander überwachen. Diese Form ist aber von den Geldgebern nicht gewollt, und sie funktioniert auch nicht. Entsprechend hoch ist die Rate der Therapieversager und der Patienten, die ihre Therapie vorzeitig abbrechen. Im Jahr 2007 waren das immerhin 15%, was unglaublich viel ist. Diese Zahlen findet man natürlich auf keiner offiziellen Verlautbarung des Staates. So kann keine sinnvolle TB-Therapie durchgeführt werden. Der Staat lässt die Menschen wieder allein. Da die antibiotische Therapie der TB sehr effektiv ist und schnell anschlägt, fühlen die Menschen sich schnell besser und sehen dann natürlich nicht ein, warum sie sich länger behandeln lassen und dafür Geld ausgeben sollten, Geld, das auch nicht vorhanden ist und für das sie sich verschulden müssten. In Indien dagegen habe ich gesehen, wie das DOTS-System funktionieren kann, wenn man sich bemüht und die entsprechende staatliche Unterstützung gewährleistet ist.

Ghana exportiert leckere Ananas. Diese wird während des Reifungsprozesses mit Chemikalien besprüht, die in Europa/USA/Indien hergestellt werden. Es ist das pure Gift. Im Beipackzettel steht, dass man beim Spritzen entsprechenden Schutz, Atemmasken etc. benutzen soll. Der Arbeiter kann das nicht lesen, den Planta-
genbesitzer interessiert das nicht, er will nicht in diese Dinge investieren. Der Arbeiter sprüht ohne jegliche Vorsichtsmaßnahmen. Dann kommt zu uns mit einer zunehmenden Luftnot. Man hört zwar kaum Lungengeräusch, der Mensch sieht noch irgendwie rosig aus. Im Röntgenbild sieht man allerdings dann eine schlimme atypische Pneumonie, die nur mit teuren Antibiotika intravenös behandelt werden kann. Wenn der Patient wieder gesund geworden ist, hat er seinen Job verloren, ca. 50 Euro Behandlungskosten gezahlt und einen Schaden an der Lunge, der ihn in Zukunft häufigere Entzündungen erleben lässt.

Über das Problem HIV/AIDS will ich heute nichts berichten. Das ist die Zeitbombe überhaupt. Das Problem bekommt Afrika nicht in den Griff, auch wenn es andere, offizielle Meinungen darüber gibt. Einzig eine Impfung könnte die jungen Leute retten. Die Infizierten sind verloren.

Manchmal habe ich das Gefühl, ich sollte von meiner medizinischen Arbeit Abstand nehmen und mich mehr politisch engagieren. Dann sehe ich jedoch die Politiker, die sich wichtiger nehmen als sie sind, denn Macht besitzen sie eh nicht. Sie lassen sich korrumpieren, weil sie ihr bisschen Ego bestätigt sehen wollen und kleben an ihrem Posten. Die Macht ist aber auf Seiten der großen, weltweiten Konzerne. Sie mani-
pulieren und suchen sich die Politiker aus, die ihnen genehm sind. Dazu habe ich wenig Lust und zudem kaum eine Chance. Gibt es unab-
hängige Organisationen, die wirklich etwas für die Armen und Rechtlosen machen und mit denen man arbeiten kann? Ich habe mich noch nicht bemüht, das genauer zu erforschen. Ist es nicht ebenso gut, auf dem Kissen zu sitzen und der Welt etwas von der guten Energie, die sich daraus ergibt, zukommen zu lassen? Ich beschäftige mich im Moment sehr viel mit Mystik und versuche in der Stille eine Antwort zu finden. Williges Jäger hat mir gesagt, dass der mystische Weg immer wieder zurück in die Welt und in die Weltverantwortung führt. „Er führt in Aktion, ins Handeln und zum Mitmenschen und ist Grundlage einer Ethik der Liebe, die im anderen Menschen sich selbst erkennt. Wir brauchen diese mystische Erfahrung, um die Erde und die Menschen heil in die Zukunft zu bringen“. Ich konnte es nie so gut ausdrücken wie Williges, habe die Wahrheit dieser Worte aber immer tief in meinem Innern gespürt. Im Moment überprüfe ich mich sehr, ob es für mich noch stimmig ist in solcher Aktion zu bleiben. Ich habe viel erlebt und eine Menge Erfahrungen gesammelt. Diese Erfahrungen gilt es neu zu überdenken. Ich fühle mich häufig allein. Renate fehlt mir, der Austausch mit meinen Freunden fehlt mir. Vieles geht in meinem Kopf herum und will bedacht sein.

Erstaunlicherweise ist es so, dass ich immer wieder Menschen ein wenig Mut machen kann, gerade dann, wenn ich stimmungsmäßig selbst etwas down bin. Dies wird dann an kleinen Begebenheiten deutlich. Gerade hier in Eikwe. Die Menschen sind schon froh, dass es dieses Krankenhaus gibt, von dem ich ein Mitglied geworden bin. Gelegentlich kommt doch ein leises Danke oder mal ein Handvoll Bananen. Was will ich mehr?

Also, bis in vier Wochen.
Euer Klaus

Montag, 14. Januar 2008

Ach, Afrika, zweiter Teil

Aus dem Sudan hatte ich ja schon berichtet, wie schwer es mir fällt, die Afrikaner zu verstehen. Ich hatte allerdings gehofft, dass es vielleicht nur in diesem vom Bürgerkrieg so zerstörten Land so sein würde, da die Menschen dort nur Krieg kennen, Krieg, der sie zu dem werden ließ, was ich erlebt und beschrieben habe. Ghana dagegen ist ein freies Land und politisch stabil, dennoch erlebe ich die Menschen in Eikwe ähnlich wie die Menschen, die 2.000 km weiter östlich leben. Die sprichwörtliche afrikanische Fröhlichkeit erscheint mir oberflächlich und als Teil einer Kultur, die mir kaum zugänglich ist. Es wird getanzt und alles locker gesehen; immer ist man dabei auf den eigenen Vorteil und den der Familie bedacht. Um sich einen Vorteil zu verschaffen, benutzt man alle Tricks, die zur Verfügung stehen. Die Ehrlichkeit bleibt dabei auf der Strecke. Ich finde es sehr befremdlich, dass ich den Menschen eigentlich nie trauen kann. Man wird immer wieder so offensichtlich belogen, dass ich nur noch vorsichtig und teilweise sehr misstrauisch bin, was ganz gegen meine Natur ist und mir Kummer bereitet, weil so nicht sein will. Normalerweise begegne ich den Menschen in meiner offenen Art und Weise, die viele von Euch kennen, die aber sicher in Afrika nicht üblich ist. So verstehen sie mich wohl auch nicht, weil sie es nicht gewohnt sind, dass es jemand gut mit ihnen meint. Sie sind eher damit vertraut, dass man sie anschreit und warten lässt. Wie man dieses Knäuel auflösen kann, dafür fehlt mir jede Vorstellung.

Der Stamm der Ensema, der zu unserem Einzugsgebiet hört, hat über viele Jahrhunderte ziemlich isoliert gelebt und mehr Kontakt zu den Menschen der Elfenbeinküste als zu denen im eigenen Land gehabt. Die Ensema sind ein stolzes Volk und lassen Außenstehende wenig Raum Fuß zu fassen. Das gilt sowohl für Weiße als auch für Schwarze. Irgendwann kamen die Missionare, die Händler und Kaufleute, die ihren Regenwald abholzten, und es kam zur Gründung dieses Krankenhauses und zum Kontakt mit der westlichen Medizin. Mit dieser Entwicklung kam nicht unbedingt eine Verbesserung ihres Lebensstandards zustande. Auch die Tatsache, dass heute in jeder einfachen Hütte ohne Strom und Wasser ein mobiles Telefon klingelt, bedeutet keine wesentliche Aufwertung ihres Lebens. Die Menschen glauben allerdings, dass der Besitz eines Handys den modernen Menschen ausmacht. Die Telekom-
firmen sind in der Hand von Franzosen und Südafrikanern. Das Analphabetentum ist noch enorm hoch, trotz einer staatlichen Schul-
pflicht. Die Schulen in unserer Umgebung sind aber schlecht, und die etwas wohlhabenderen Menschen schicken ihre Kinder in die größere Stadt zu Verwandten. Deutlicher Ausdruck der fehlenden Bildung ist das enorme Bevölkerungs-
wachstum. Jede Frau bekommt in ihrem Leben acht bis zehn Kinder, von denen häufig die Hälfte in den nächsten Jahren wieder stirbt. Die Fehlgeburten und induzierten Aborte sind dabei nicht mit eingerechnet. Für diese Fälle ist das Hospital ein wirklicher Segen für die Frauen und Kinder.

Bevor man jedoch ins Krankenhaus geht, versucht man immer zuerst bei einem lokalen Heiler Hilfe zu bekommen. Das hat vielerlei Gründe. Er ist billiger als unser Krankenhaus, man hat den Heiler vor Ort, man ist ihnen verpflichtet und man hat Angst vor ihnen. Der Heiler gehört zu einer Jahrhunderte alten Kultur. Vielleicht macht unser Hospital aber auch Angst und bleibt so die letzte rettende Insel, wenn man gar nicht mehr weiter weiß. Ich kenne nun keinen dieser Heiler, denn sie vermeiden jeden Kontakt zum Krankenhaus. Ich sehe nur die tödlichen Nebenwirkungen ihrer Medizin. Im Sudan starben die Menschen, die von solchen Heilern kamen zumeist an einem cerebralen Fieber, hier im Nierenversagen oder an nicht beherrschbaren Blutungen. Auch das Traktieren mit dem Glüheisen gehört zum Standard und hinterlässt grausame Spuren. Ich bin sicher kein Gegner von Naturheilverfahren und kenne die Schwächen der Schulmedizin, Afrika hat aber wenig Positives auf dem Gebiet der alternativen Medizin zu bieten. In Asien und anderswo auf der Welt habe ich niemals solche tödlichen Effekte einer Medizin gesehen. Jeder Bauchschmerz oder irgendwelche Verstopfungen werden mit Einläufen und Kräutergetränken aus dem Busch therapiert, die oftmals verheerende Folgen haben. Die Kenntnis von Viren und Bakterien ist den Menschen nicht geläufig, und so glaubt der Erkrankte daran, dass er verhext wurde und einem Zauber ausgeliefert ist, dem man durch einen Gegenzauber begegnen muss. Solche Auffassung erinnert an Verhältnisse des Mittelalters in Europa.
In den Weihnachtstagen 2007 wurden zwei kleine Mädchen gefangen und barbarisch geschlachtet. Das Blut wurde offenbar getrunken, Organe wie Herz und Leber wurden gegessen. Geschehen hier in unmittelbarer Nähe. Eines der Mädchen war die Nichte einer unserer Hebammen. Die Angehörigen der Opfer wagen es nicht einmal diesen barbarischen Mord polizeilich verfolgen zu lassen, obwohl man Vermutungen hat, wer hinter diesen rituellen Morden stehen könnte. Sie haben einfach Angst vor weiteren bösen Flüchen. Als einzige Reaktion auf diese Vorfälle achten die Familien jetzt besser auf ihre Kinder. Auch einzeln reisende Personen wurden gelegentlich nicht wieder gefunden. Die Täter sind angeblich getaufte Menschen, was offenbar nichts bedeutet.
Die Menschen hier gehen jeden Sonntag brav in die Kirche und ertragen die Einschüchterungen des Priesters, die sie nach zwei Stunden berechtigterweise einschlafen lassen. Lebendig werden sie, wenn sie beteiligt werden, singen können und endlich den Ort der Segnungen verlassen dürfen. Die Kirche unterliegt in Afrika an den Orten, die ich kennen gelernt habe, einem Irrtum, wenn sie meint, die Menschen bekehrt zu haben. Sie sind auf dem Papier Christen, sind aber ihrer alten Kultur und deren Riten so sehr verhaftet, dass sie bislang noch nicht davon Abstand nehmen.

Ich begreife so langsam, dass hier ein Teil meines Unverständnisses zu suchen ist. Wenn man in Afrika arbeiten will, muss man sicher diese Umstände akzeptieren und damit leben lernen. Zu meiner Standardfragen gehört mittlerweile immer die nach „local treatment“. Leider gibt niemand freiwillig zu etwas genommen haben. Erst nach längerem Befragen am nächsten Tag, wenn die Menschen ein wenig Vertrauen gewonnen haben, erfährt man manchmal die Wahrheit. Selbst ein Pfleger aus unserem Haus, dessen Bruder im akuten Nierenversagen verstorben war, gab erst später zu, dass dieser vorher von einem Heiler behandelt worden war, der mit seiner Behandlung das Nierenversagen auslöste. Jetzt ist dieser Pfleger kooperativ und will mir die Kräuter besorgen, die seinen Bruder umgebracht haben. Ich will versuchen, sie in Deutschland analysieren zu lassen, um wenigstens einen Anhaltspunkt zu finden, in welche Richtung man die Erkrankten therapieren könnte. An Aufklärungskampagnen seitens der Behörden zu diesem Thema sind die Verantwortlichen nicht interessiert.

Es wird in Afrika einfach soviel ignoriert, und man hofft stets, dass sich ein Problem von alleine lösen wird. Augen zu und durch, irgendwie wird es schon klappen. Wie kann ich einem Analphabeten erklären, was Viren sind und wie tödlich die unsichtbaren Dinger wirken können. Nein -das muss doch Voodoo-Zauber sein! Den einzigen kostenlosen Spaß, Sex ohne Kondom, will man mir jetzt auch noch nehmen! Die spinnen doch, die Weißen oder die intellektuellen Schwarzen! Also geht es munter weiter so, bis es eben nicht mehr geht. Dann soll Medizin helfen, die ich als HIV-Patient regelmäßig einnehmen soll, mit den Mahlzeiten, vor den Mahlzeiten. Was ist aber, wenn ich mir die Mahlzeiten nicht einmal leisten kann? Und wenn es mir besser geht, soll ich wieder gut und viel essen, aber wovon denn bitte schön? Die Patienten müssen auf Nebenwirkungen achten, die sie nicht einmal sprachlich beschreiben können. Es gibt Medikamente für 30 Tage, sie kosten etwa 4 Euro. Woher nehmen, ich bin sogar zu schwach zum Stehlen. Dann habe ich kein Geld für den Bus, also kann ich mir keine neuen Medikamente besorgen. Einige Tage ohne Medikamente können unter Umständen die gesamte Therapie in Frage stellen. Das ghanaische Gesundheitssystem hat im ganzen Land HIV-Zentren eingerichtet und zur Zeit mit ausreichenden Medikamenten versorgt. Das Geld aus dem Ausland scheint zu fließen. Die verantwortlichen Schwestern fahren immer wieder zu Fortbildungen, es gibt einen Laptop, Fernsehen und Video, somit wird den Geldgebern Rechnung getragen. Trotzdem wird die Erkrankung unter dem Siegel einer völligen Verschwiegenheit geheim gehalten. Der erkrankte Ehepartner kann mit seiner Frau normal weiterleben, ohne sie von seiner Erkrankung in Kenntnis zu setzen. Zufällige positive HIV-Testergebnisse, zum Beispiel im Rahmen von Blutspenden, werden den Patienten berechtigterweise nicht mitgeteilt. Es gibt aber auch keine Überlegungen, solche HIV-Positiven zu einer Beratung zu schicken, um dann über einen Test zu sprechen. So wartet man, bis AIDS ausbricht, der Mensch also richtig krank wird, um ihn dann zu behandeln. Ich bezweifele, dass man das Problem jemals vernünftig in den Griff bekommt, auch wenn man noch mehr Geld in das System pumpt und weitere Medikamente bezahlbar werden. Der Mensch kann nur gesund werden, wenn er etwas von seiner Krankheit versteht und sich selbst hilft, seine Selbst-
heilungskräfte aktiviert. Wenn die Menschen aber an Magie als Auslöser glauben, sind wir mit unserer westlichen Medizin und unseren Vorstellungen nicht die richtigen Therapeuten, insofern werden wir in Afrika mit der Therapie von HIV/AIDS meiner Meinung nach scheitern. Mit dieser Meinung rufe ich sicherlich eine Menge Protest hervor, sie mag auch provokativ klingen.
Wenn ich aber jeden Tag gesunde Kinder an Malaria und Durchfallerkrankungen sterben sehe, junge Mütter während der Geburt versterben, dann möchte ich meine Prioritäten anders setzen und sinnvolle Hilfe auf solche Behandlungen konzentrieren. Man kann eine HIV-Behandlung in Deutschland nicht mit einer HIV-Behandlung in Afrika vergleichen.
Die wirklich guten Erfolge, die man in Deutsch-
land oder den westlichen Ländern sieht, bleiben hier Raritäten. Die HIV-Erkrankten in Afrika haben so viele andere Erkrankungen zu durchleben, die Lebensumstände auf dem Land und in den Riesenstädten sind so anders als bei uns, so dass diese Faktoren den Erfolg der Therapie immer gefährden werden. Die HIV-Infizierten erleiden den Ausbruch ihrer Krankheit sehr viel früher als in den westlichen Ländern und versterben daran. Was Statistiken uns sagen und wie sie erhoben werden, was für Manipulationsmöglichkeiten bestehen, weiß jeder, der mit solchen Statistiken arbeitet. Vielfach bekommt man das präsentiert, was man sehen möchte.

Es gibt sicher noch sehr viel über dieses Thema zu sagen. Andere Themen bewegen mich immer wieder in meiner täglichen Arbeit. Ich erlebe so viele Kontraste in der afrikanischen Lebens-
weise, über die ich noch viel erfahren muss. Die Schwestern und Pfleger sind sehr gut ausgebil-
det und ich kann von ihnen viel lernen, andererseits machen sie dann wieder mit Nachlässigkeiten ihre so gute Arbeit zunichte.

Mit dem Leben und Sterben geht man hier völlig anders als bei uns um. Emotionen werden Außenstehenden nie gezeigt. Es wird schnell geboren und mindestens so schnell wieder gestorben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass das einzelne Leben in Afrika wenig zählt, was ich dann wiederum kaum glauben kann, wenn ich die übermüdeten Mütter an den Betten der Kinder schlafen sehe. Das Leben ist in Eikwe/Afrika enorm hart und für mich als reichen Europäer nur ansatzweise nachzuvoll-
ziehen. Alles ist so schwierig, und kleine Hilfen scheitern vielfach an dem mangelnden Geld, was benötigt wird, um das Auto oder den Bus ins Krankenhaus zu zahlen. Niemand hilft oder kann es sich leisten etwas umsonst zu machen. Der Staat müsste und könnte sicher mehr für die Menschen erreichen, wenn das Geld nicht immer wieder in korrupte Kanäle fließen würde. Das ist aber ein weiteres Bücher füllendes Problem.

Ich schaue weiter positiv auf meine restliche Zeit, rede viel mit dem Personal, um mehr von dieser mir immer noch fremden Welt zu verstehen. Mein derzeitiges Leben ist sehr abwechslungsreich, anstrengend und erfüllend. Ich bin dankbar hier sein zu dürfen. Ich kann für die Menschen etwas Sinnvolles tun und entwickle mich und meine medizinischen Kenntnisse weiter. Vielleicht gelingt es mir dann später auch die Menschen in Eikwe etwas besser zu verstehen. Im Moment kann ich manchmal nur leise vor mich hin grummeln- ach Afrika, ach Eikwe- wenn ich wieder mal an meine Grenzen des Verstehens komme.

Auf bald, Klaus

Freitag, 4. Januar 2008

Ein Arbeitstag in Eikwe

Samstag, den 30.12.2007

Liebe Freunde,

jetzt will mal versuchen, Euch etwas aus meinem derzeitigen Leben zu erzählen, das sehr aufregend und vielfältig ist. Mir gehen dabei so viele Gedanken durch den Kopf, dass ich nicht recht weiß, wo ich anfangen soll.

Meine Tage fließen dahin, ich wundere mich, wie schnell es schon wieder dunkel wird und der Tag zu Ende geht. Erst dann merke ich, wie müde ich bin. Die Verarbeitung des Erlebten kommt dann so langsam. Renate bekommt davon am meisten mit, da wir jeden Tag lange telefonieren. Diesen Luxus gönne ich mir, zumal ich sonst keine Gelegenheit habe, mein Geld auszugeben.

Die Menschen in diesem westlichen Distrikt Ghanas sind schon recht arm, vor allem, wenn man die Menschen aus der Elfenbeinküste hinzu rechnet, die regelmäßig zur Behandlung kommen. Sie sind immer am schwersten erkrankt, vor allem an HIV/AIDS. Da weiß man kaum, was man zuerst und zuletzt machen soll. Die Unter-suchungsmöglichkeiten in unserem Haus sind schon recht gut, reichen aber immer noch nicht aus. Die Zeit ist vielfach auch nicht vorhanden, um sich intensiver um die Patienten zu kümmern. So ist die Therapie häufig nur symptombezogen, was mir widerstrebt, zumal ich weiß, wie man es besser machen könnte. Man kann aber nicht mit unseren deutschen Perfektionsansprüchen in diesen Bezügen arbeiten. Achtzig Prozent müssen reichen.

Ich will Euch einfach mal meinen gestrigen Freitag schildern.

Um 7.45 Uhr haben wir Ärzte uns zu einer Besprechung getroffen. Ich nutze diese Zeit, um eine kurze internistische Fortbildung zu geben, fast immer krankheitsbezogen. Ich sehe bei meinen Visiten und in der Ambulanz Fehler in der internistischen Therapie, die ich dann anspreche. Die Klinik ist halt gynäkologisch/
chirurgisch geprägt, und man kann als entsprechender Facharzt wirklich nicht alles wissen. So hatten wir an diesem Morgen eine längere Diskussion, die aber für alle Beteiligten lehrreich war.

Um 8.30 Uhr habe ich meine Visite auf der Aufnahmestation gemacht. Ich habe Patienten untersucht, entlassen, eben alles, was dazu gehört. Zwischendurch gab es Notfälle mit fieberkrampfenden Kindern und einem Alkoholiker im Delirium. Dann habe ich mir die neuen Patienten angesehen, die in der Nacht gekommen waren. Die Schwestern rufen uns Gott sei Dank nicht in jedem Fall. Darunter fand ich eine junge Frau mit einem inkompletten Abort, die entsprechend blutete. Da musste ich einfach mal zwischendurch eine Ausschabung machen, damit das Bluten ein Ende hatte.

Um 10.15 Uhr bin ich dann zum Ultraschall gegangen. Vor dem Untersuchungsraum saßen schon die Menschen in einer langer Reihe. Viele Routineuntersuchungen im Rahmen der Schwangeren-Vorsorge. Frau Dr. Köthe ist, nachdem sie die gynäkologische Abteilung visitiert hatte, in die Ambulanz gegangen. Kurze Zeit später schickte sie mir eine Frau, die Flüssigkeit im Bauch hatte und schwanger war. Also musste sie gleich in den Operationssaal, da es sich um eine extrauterine Schwanger-
schaft handelte, die sofort operiert werden muss. Der linke Eileiter war gerissen, aus dem die arme Frau blutete. Ich habe weitere schwerwiegende Befunde bei meinen Untersuchungen gesehen und dann gleich die entsprechende Therapie eingeleitet, was hier immer mit viel Schreiberei verbunden ist. Meine Kollegin, Frau Cooper, war am zweiten Gerät aktiv. Zwischendurch nehmen wir uns aber immer wieder die Zeit, wichtige Befunde zu demonstrieren und zu diskutieren. Da im Nachbarraum geröntgt wird, werden uns auch die Bilder zum Befunden immer wieder hineingereicht.

12 Uhr: Stellungswechsel. Ich bin kurz in mein Appartment gelaufen, um für meine Flüssigkeitsein- und -ausfuhr zu sorgen. Dann ging es in der Ambulanz weiter. Dort warteten vor meinem Zimmer schon eine Menge Leute. Viele Belanglosigkeiten, hervorgerufen durch die neue Krankenversicherung in Ghana. Der neu gewählte Präsident hat vor den Wahlen den Menschen versprochen, dass jeder Ghanaer eine Krankenversicherung bekommen kann. Sie zahlen etwa 140 Euro im Jahr. Die restlichen Kosten sollen aus dem Staatshaushalt mittels einer Art Mehrwertsteuer finanziert werden. Der Jahresbeitrag zur KV ist für die meisten Menschen noch zu-viel, so dass sich der Mittelstand versichern kann und jetzt sein Recht der Behandlung und vor allem der Therapie einfordert, denn alles zahlt die Versicherung. Dass es eine Solidarversicherung ist, verstehen die Menschen nicht, da die Gemeinschaft dem Einzelnen eh egal ist. Wenn keine Medizin verschrieben wird, gibt es immer Ärger. Das System kann so natürlich nicht funktionieren, und das Krankenhaus muss gelegentlich lange auf das Geld der Versicherung warten. Es gibt schon Krankenhäuser in Ghana, die die Behandlung auf Krankenschein ablehnen. Eikwe wird wohl bald folgen müssen. Dem neuen Präsidenten ist das jetzt aber offenbar egal. Er hat seine Wahl gewonnen und sein Versprechen eingelöst. Dennoch, es gibt auch bedauernswerte Menschen, die berechtigt nach Hilfe suchen.

13 Uhr Mittagspause, gebratener Reis und Fisch, war ja Freitag, wobei der Fisch vor der Tür gefangen wird und entsprechend frisch ist. Wenn sie in der Kantine die Musik leiser stellen würden, könnte man sich sogar etwas entspannen. So verschwinde ich lieber schnell in mein Zimmer, um mir noch einen Kaffee zu kochen.

Um 14 Uhr ging es in der Ambulanz weiter. Es kam eine HIV positive Mutter mit ihrem drei Monate alten Kind. Ich kannte sie schon aus der HIV Ambulanz. Der Mann ist vor drei Monaten an AIDS verstorben, das Kind ist auch HIV positiv, es ist der letzte Mensch, den sie hat. Das Kind hatte eine äußerst schwere Lungenent-
zündung und bekam kaum Luft. Die Mutter sah so traurig aus, den Kummer sah man in ihren Augen. Ich brauchte ihr nicht zu erzählen, dass es kaum Hoffnung gibt. In so einem Fall bräuchte ich mehr Zeit, um das Kind zu versor-
gen. Wie gerne hätte ich mit ihr persönlich gesprochen, für die Übersetzerin war das jedoch Zeitverschwendung. Allein an diesem Nachmittag habe ich drei neue HIV Fälle diagnostiziert. Auch die Syphilis treibt hier ihr Unwesen. Ein 28 Jahre alter Mann mit zwei hübschen Frauen holte sich seine Spritze ab. Beide Frauen hatten schon jeweils vier Kinder und der Spaßfaktor wurde außerehelich erhöht. So ging es im drei Minutentakt weiter, meine Übersetzerin und ich wurden leicht müde und die Schlange vor der Tür wurde nicht kürzer.

15.30 Uhr. Die ersten Verletzten eines Massenverkehrsunfalls wurden uns vor die Tür gelegt. Alle Mitarbeiter waren wieder hellwach. Die Verletzten hatten einen Bus gestürmt, um noch nach Hause zu kommen. Der Busfahrer hatte die Nase voll und ist einfach losgefahren. Die Leute sind von Dach und aus den Türen herausgefallen und dann in ihrer Panik übereinander getreten. Kinder waren darunter, ein Toter vor Ort. Die Patienten mit offenen Knochenbrüchen haben wir notfallmäßig behandelt und sofort ins nächste Krankenhaus verlegt, das die Brüche versorgen kann. Verletzte mit stumpfen Bauchtraumen, man war ja über sie hinweg gelaufen, habe ich sonographiert. Wir brauchten sie aber nicht zu operieren. Die meisten hatten fürchterlich schmutzige
Hautabschürfungen, teilweise bis auf die Knochen. So wurden die Wunden gesäubert, Verbände angelegt. Das alles inmitten der aufgeregten Angehörigen und Schaulustigen aus dem Krankenhaus. Es war wirklich ein Chaos, was auch nicht mit wütenden Ausbrüchen aufgelöst werden konnte. Frau Köthe war zwischenzeitlich im Kreißsaal, da ein Kind mit Steißlage geboren wurde und der Kopf stecken blieb, um den noch die Nabelschnur hing. Auch dieses Neugeborene musste wiederbelebt werden. Nachdem wir wieder einigermaßen einen Überblick hatten, wurden die letzten Patienten aus der Ambulanz versorgt.

18 Uhr, letzter Rundgang über die Aufnahme-
station. Die Veranda lag voll mit den Verletzten, da es kein Bett mehr gab im Hospital.

18.15 Uhr Geburtsstillstand bei einer Gebärenden seit einigen Stunden, genauer gesagt seit 12 Stunden. Das auswärtige Healthcenter schickte die Frau viel zu spät zum Kaiserschnitt, den sie dann auch erhielt. Mutter und Kind waren danach wieder in Ordnung.

19 Uhr Vorbereitung zum Abendessen, will heißen, endlich eine Dusche und raus aus den verschwitzten Klamotten.

19.15 Uhr Anruf aus der Aufnahmestation. Zwei Brandopfer aus der Elfenbeinküste. Benzin war explodiert und hat die beiden erwischt. Bei dem Einen war 20% der Haut betroffen, dem zweiten Opfer waren 15% der Haut verbrannt. Sie wurden entsprechend versorgt. Da wir nicht einmal ein Bett hatten, mussten zwei Patienten notfallmäßig entlassen werden. Sie haben draußen auf dem Rasen übernachtet.

20 Uhr Abendessen

21 Uhr Schlafen

3 Uhr klingelt das Telefon, wieder eine Frau, die so stark blutete, dass sie 30 Minuten später ausgeschabt werden musste wurde.

7 Uhr Anruf, Notfallkaiserschnitt.

Den heutigen Tag erspare ich Euch. Ich bin zwar jeden Abend müde und erschöpft, doch immer sehr zufrieden. Ich lerne jeden Tag neue Dinge, ich bin immer wieder gefordert und wundere mich, wie erfolgreich in all den Unzulänglich-
keiten unsere Arbeit ist. Die Brandverletzten würden in Deutschland in sterilen Spezial-
kliniken versorgt werden, hier muss es ohne sterile Raumluft gehen. 20 Meter weiter husten die TB Kranken Blut. Das HIV-Kind mit der Lungenentzündung schnauft wieder ruhiger, auch ohne Beatmung und Intensivstation. All diese positiven Erfahrungen lassen mich mit der Arbeit sehr zufrieden sein, lassen mich ruhig einschlafen. Ich habe jetzt nur von meinem Tag erzählt, die anderen Kollegen leisten die gleiche Arbeit und das schon seit vielen Jahren in eben diesem Tempo.

Ich nehme mir aber auch meine Auszeiten um in die Stille zu gehen. Meine morgend- und abendlichen Kontemplationen geben mir die Kraft, die ich im Moment sehr brauche. Vor allem auch, was die emotionale Verarbeitung der Arbeit angeht. Afrika ist wirklich ein besonderer Kontinent mit Menschen, die ich kaum verstehen kann. Doch dazu mehr im nächsten Blog.

Morgen werde ich mir einen Tag frei nehmen und in ein Hotel mit einem wirklich tollen Strand fahren. Weißer Sand, Palmen, frischer Fisch und viel Ruhe. Das Weihnachtsfest hält hier immer noch an. Es ist total laut und hat den Charakter von Karneval. Es gibt Umzüge mit lauter Musik und viel Alkohol. Ein so lautes Weihnachten habe ich noch nie erlebt. Auch das ist Afrika: laut und brüllend.

Euch Allen einen guten Rutsch ins neue Jahr. Mögen sich die Wünsche erfüllen!
Auf bald,

Euer Klaus